Der Knabe vom Petersberg

Siebengebirge Märchen, der Knabe vom Petersberg
Der Knabe vom Petersberg, Ritter Lambert und Hündchen Lucie

In der tradierten Version dieser Legende verliert der Knabe vom Petersberg seine Eltern, niemand öffnet ihm die Tür, und er stirbt allein am Grab seiner Eltern. In meiner Version ist ihm etwas Liebe vergönnt.

Diese Geschichte spielt Anfang des 14. Jahrhunderts im Siebengebirge. In den Jahren von 1305 bis 1317 gab es in vielen Ländern Europas eine Hungerkatastrophe: Unterernährung und Krankheiten, verstärkt durch die völlig unzureichende Hygiene in den engen Städten, rafften viele Menschen dahin.

Lambert

„Bring‘ sie sanft über Hügel und Wälder, führ‘ sie sicher durch Eis und durch Schnee, geleit‘ sie durch Wiesen und Felder, trag‘ sie heil über die stürmische See.“

Nach den letzten Akkorden legte Ritter Lambert die Laute aus der Hand. Früher hatte er oft gesungen, wenn in der großen Halle der Wolkenburg zum Tanz aufgespielt wurde, doch schon seit einigen Jahren fanden hier keine Feste mehr statt. Mit diesem Lied bat er um Schutz für die Menschen, die auf der Wolkenburg Schutz vor dem hereinbrechenden Winter suchten. Lambert sah sich in seiner Halle um. Stroh war auf den Holzboden gestreut worden, um ihn weicher und wärmer zu machen. „Jesus Christus hatte es damals auch nicht besser“, dachte er, „Maria und Josef hatten noch nicht einmal ein richtiges Dach über dem Kopf. Ob unsere Erzbischöfe in all ihrem Reichtum wohl je daran denken?“

Große Not

Viele Vertreter der hohe Geistlichkeit führten ein Leben im Luxus, während das Leben der einfachen Leute von Armut, Hunger und Seuchen bestimmt wurde. Die Preise für Getreide waren ins Unermessliche gestiegen, und viele Menschen starben an Entkräftung, Krankheiten und Unterernährung. Die Not jener Jahre war so groß, dass man von Einzelschicksalen kaum mehr Notiz nahm.

Doch eine Geschichte ging Lambert nicht aus dem Sinn: In Dollendorf, am Fuße des Petersbergs, erzählte man von einem Knaben, der an einem Tag Vater und Mutter zugleich verloren hatte. Er war von Tür zu Tür gezogen, aber niemand hatte sich seiner angenommen. Krank und verzweifelt war er wenig später zum Grab seiner Eltern am Waldesrand geschlichen und dort gestorben. Er hatte das Weihnachtsfest nicht mehr erlebt. Jener Knabe vom Petersberg, so sagte man, hatte selbst im Grab keine Ruhe gefunden und irrte nun durch den Wald um den Petersberg. Lambert hatte von einem Pachtbauern namens Logmann gehört, der durch eine Missernte sein Land verloren hatte und seine Familie nicht mehr versorgen konnte. Wenig später waren er und seine Frau gestorben. Aber niemand wusste, was aus ihrem kleinen Sohn geworden war.

Lucie und der Knabe

Auf einmal flog die Tür auf. Lambert schaute auf – da stand die schemenhafte Gestalt eines Knaben, ihm auf dem Fuß folgte Lamberts treue Hündin Lucie, die fröhlich bellend um die kleine Gestalt herum sprang. „So war es von Anfang an“, dachte Lambert lächelnd, und erinnerte sich an ihre erste Begegnung.

An einem Sommerabend vor einigen Jahren waren Lucie und er im Wald unterwegs gewesen. Auf einmal blieb sie hinter ihm zurück. Er drehte sich um und sah, wie sie um eine kleine, schemenhafte Gestalt herum sprang und fröhlich bellte. Ganz offensichtlich hatte sie einen neuen Freund gefunden. Als er näher trat, erkannte er einen schmächlichen, verstörten Knaben. „Sei willkommen“, sagte er freundlich zu ihm, „wenn Du magst, dann komme mit uns.“ Zögernd, aber zunehmend vertrauensvoller war der Knabe mit ihnen auf die Wolkenburg gekommen.

Freundschaft

Lucies fröhliches Gebell riss Lambert aus seinen Gedanken. „Nun lauft schon, Ihr zwei“, sagte er munter, „aber lasst mir ein bisschen was von der Burg stehen.“ Der Knabe und Lucie stoben davon. Stroh wurde aufgewirbelt, doch als es sich wieder legte, sah es nicht unordentlich, sondern dichter, weicher, einfach einladender aus. Lambert lächelte immer noch und dachte voller Dankbarkeit an die Zeit, die er und Lucie mit ihrem kleinen Freund verbringen durften.

Seit jenem Sommerabend bestand eine tiefe Freundschaft zwischen ihnen dreien. Auch wenn der Knabe eine schemenhafte Gestalt blieb und nie ein Wort sagte, so spürten Lambert und Lucie überall seine Gegenwart. Oft saß Lambert am Bett eines Kranken, und dann stand der Knabe still hinter ihm und gab ihm Trost und Kraft. Er begleitete Lambert und Lucie, wenn sie armen Menschen in den umliegenden Dörfern Äpfel aus dem kleinen Burggarten oder andere Lebensmittel brachten. Wenn Lambert dann an eine Tür klopfte, trat er scheu beiseite und schien freudig überrascht, dass ihnen die Tür aufgemacht wurde. „Was magst Du in Deinem kurzen Leben nur erlebt haben“, fragte Lambert manchmal, doch der Knabe blieb stumm.

Eines Abends kamen sie vom Petersberg. Auf einmal lief der Knabe zu einer kleinen Lichtung und kniete nieder. Leise trat Lambert näher und sah, dass er an einem Grab kniete. Auf dem verwitterten Kreuz war ein Name eingeritzt: Logmann. „Es ist das Grab seiner Eltern“, dachte Lambert erschüttert. Sein kleiner Freund war jener Knabe vom Petersberg aus Dollendorf.

Während Lambert so in Gedanken versunken saß, war das Feuer in der Halle fast niedergebrannt. Er legt ein paar Holzscheite nach, schaute in das Feuer und hielt ein stummes Zwigespräch mit seinem kleinen Freund. „So hast Du am Ende doch noch ein Heim gefunden“, dachte er, „und mir hast Du mehr Freude gebracht, als Dir selbst zu Lebzeiten vergönnt war. Wie schön wäre es, könnte ich Dich noch aufwachsen sehen.“

Abschied

Doch tief im Innern wusste er, dass ihm dieser Wunsch nicht erfüllt werden würde. Vor einiger Zeit war er an einem nasskalten Tag unterwegs gewesen und war völlig durchnässt auf der Wolkenburg angekommen. Er hatte sich eine Lungenentzündung zugezogen. Trotzdem hatte er sich weiter unermüdlich für die Menschen eingesetzt, die ihn brauchten, und seine Kräfte nicht geschont. So hatte er seiner schweren Krankheit nichts entgegenzusetzen; er sollte das Weihnachtsfest nicht mehr erleben.

An seinem Totenbett saß der Knabe vom Petersberg. Lambert fragte ihn voller Sorge, wie es denn nun weitergehen sollte. Da plötzlich verschwand der Knabe und ein erwachsener Mann aus Fleisch und Blut stand an seinem Bett. „Sterbt in Frieden, Herr Ritter“, sagte er sanft, „Ich bin doch schon tot, mir können Armut und Krankheit nichts mehr anhaben. Ich, Logmann, werde bei Euren, bei unseren Leuten bleiben und für sie sorgen.“ Wenige Tage nach dem Ritter starb auch seine treue Lucie. Der Knabe, nun ein erwachsener Mann namens Logmann, begrub sie in der Nähe des Burggartens auf der Wolkenburg.

Äpfel aus dem Burggarten

Am Weihnachtsabend feierte er mit den Menschen und Tieren auf der Wolkenburg ein kleines Fest, danach ging er hinaus zum Grab. Es war eine sternenklare Winternacht und der Mond schien hell über der Burg und ihrem kleinen Burggarten. Da plötzlich sah er voller Staunen, dass die Bäume Äpfel trugen, und das mitten im tiefsten Winter! Er holte so viele Äpfel, wie er tragen konnte, und trug sie hinein in die Halle. Ein kleines Mädchen jauchzte vor Freude und lief auf ihn zu, ihr auf dem Fuß folgte ein kleiner Hund, der fröhlich bellte. Logmann, der einstige Knabe vom Petersberg,  lächelte. „Es gibt neue Hoffnung“, dachte er, „es gibt sie immer.“

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